Wie sich der Krieg in der Ukraine vermeiden lässt

Schießübung der Miliz der „Volksrepublik Doinezk“. Bild: dan-news.info

Es ist jetzt durchaus vorstellbar, dass es in Europa zu einem großen Krieg kommt. Darüber hinaus ist es auch möglich, dass dieser Krieg schnell auf Asien übergreift, aber wir wollen diese schwerwiegende Frage hier erst einmal beiseitestellen. Was sind die Kriegsziele von Präsident Wladimir Putin? Wie kam es zur Kriegsgefahr? Gibt es irgendetwas, das diesen Abstieg in die Finsternis aufhalten kann?

In einem geleakten Memo, das von der Washington Post am 3. Dezember veröffentlicht wurde, heißt es, die russischen Streitkräfte seien jetzt für einen mehrgleisigen Angriff mit „100 Bataillonen taktischer Gruppen“ bereit. Sie umfassen ungefähr 175.000 Soldaten, die entweder im Einsatz sind oder gerade verlegt werden. Das ist offenbar die doppelte Stärke der russischen Truppen, die sich während der Kriegsbedrohung im Frühjahr 2021 an der Grenze zur Ukraine befanden.

In dem Bericht wird auch warnend darauf hingewiesen, dass Moskau Reservistenverbände einberufen hat. Es wird behauptet, dass die Legionen des Kremls einfach darauf warten, bis der Schlamm zu Eis gefriert, damit die russischen Panzer schneller manövrieren können. Da nun eine Kaltfront in die Region zieht, hofft die russische Militärführung möglicherweise auf einen Sieg, der über das Neujahrsfest gefeiert werden kann.

Das russische Militär hat sich  in den letzten zwei Jahrzehnten für einen solchen Schlag gerüstet und trainiert, und im Rückblick mag es scheinen, dass die Einnahme der Krim im Frühjahr 2014 nur die Vorspeise vor dem Hauptgericht war.  Es könnte sich durchaus herausstellen, dass der russische Präsident nur die Wunde des Donbass schließen will, indem er die kleinen östlichen Regionen Luhansk und Donezk abtrennt, um diesen blutigen Konflikt ein für alle Mal zu beenden. Russische Nationalisten fordern einen solchen Schritt seit 2014 unaufhörlich.

Doch auch eine größere und ehrgeizigere Operation ist nicht völlig auszuschließen. Wenn Putin die „Krise als Chance“ begreift, könnte er sich ähnlich wie 2014 für eine vollständige Spaltung der Ukraine in zwei Teile entscheiden. Ein einfacher Blick auf eine kulturell-sprachliche Karte zeigt, dass alle südlichen und östlichen Provinzen der Ukraine mehrheitlich russischsprachig sind. Für die Russen ist allein der Name „Poltawa“ (eine der östlichen Provinzen der Ukraine) ein fast ebenso deutlicher Aufruf zum Krieg wie der Name „Sewastopol“ auf der Krim. In der Tat war es Peter der Große, Putins Idol und Inspiration, der 1709 die eindringende schwedische Armee bei Poltawa entscheidend besiegte und damit den Weg für die Gründung des modernen russischen Staates ebnete.

Noch ehrgeiziger könnte Russland sich auf Odessa stürzen, die bedeutende Stadt am Schwarzen Meer, die 1794 von der russischen Kaiserin Katharina der Großen gegründet wurde. Odessa, Schauplatz einer antirussischen Gräueltat im Mai 2014, würde nicht nur Russlands stolzer Schwarzmeerflotte eine neue Heimat bieten, sondern auch die häufigen und anstößigen Besuche von NATO-Kriegsschiffen beenden. (Die Beschlagnahmung würde mit einer Portion Ironie einhergehen, einer besonderen Eigenschaft des russischen Humors, da die amerikanischen Steuerzahler die Rechnung für die jüngste Modernisierung der Marinepiers von Odessa bezahlt haben). Wenn Putin zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen will, könnte er seine Armeen sogar bis nach Moldawien vorstoßen lassen, da dieses postsowjetische Land bereits eine Enklave in Transnistrien besitzt, wo russische Panzer garantiert mit Blumengirlanden begrüßt werden.

Zu diesem späten Zeitpunkt lässt sich eine Tragödie vielleicht nicht mehr durch Diplomatie vermeiden. In den letzten zwei Jahrzehnten hat Washington immer wieder die Konfrontation dem Kompromiss mit Moskau vorgezogen. In den 1990er Jahren setzte die Clinton-Regierung die NATO-Erweiterung durch, trotz der Warnung von Amerikas erfahrenstem Diplomaten George Kennan, der voraussagte, dass damit die Saat für einen neuen Kalten Krieg gelegt würde. Wie üblich hatte Kennan Recht. Die Bush-Regierung verschlimmerte die Situation noch, indem sie eine ganze Reihe neuer Länder in das Bündnis holte und eine Reihe von Rüstungskontrollverträgen aufkündigte.

Obama versuchte zwar tapfer, die Beziehungen neu zu gestalten, doch seine inkompetenten Diplomaten scheiterten kläglich daran, Osteuropa Frieden und Stabilität zu bringen. Trump, der ständig als „Handlanger Putins“ angegriffen wird, setzte noch einen drauf, indem er dem ukrainischen Militär Hilfe mit tödlichen Waffen gewährte, das Tempo der US-Militärübungen an Russlands Grenzen rücksichtslos ausweitete und fast alles, was von der Rüstungskontrolle mit Moskau übrig geblieben war, über Bord warf.

Welches Friedensangebot könnte Washington jetzt unterbreiten? Um das Offensichtliche zu sagen: Es könnte sich schnell und öffentlich bereit erklären, die NATO-Tür sowohl für Georgien als auch für die Ukraine zu schließen. Das könnte den sich abzeichnenden Konflikt aufhalten und die Ukraine retten, aber ein dauerhafter Frieden für die Region müsste noch einige Schritte weiter gehen: durch den Wiedereintritt in wichtige Rüstungskontrollabkommen wie den Vertrag über Open Skies und den Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen sowie in noch grundlegendere Abkommen wie den ABM-Vertrag über die Abwehr ballistischer Flugkörper und den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa.

Doch um die europäische Sicherheit wirklich vom neuen Kalten Krieg zu trennen, müssen die NATO-Staaten das Kriegsbeil begraben, die unaufhörliche Aufrüstung in Osteuropa stoppen und – so bitter das auch sein mag – die russische Souveränität auf der Krim anerkennen, die die eigentliche Ursache für die anhaltenden Spannungen in der Region ist. Als Zwischenschritt auf dem Weg zu diesen Zielen wäre es vielleicht ratsam, dass NATO-Generalsekretär Jan Stoltenberg und verschiedene hochrangige Biden-Berater einige Abendkurse über internationale Beziehungen besuchen, in denen sie etwas über „rote Linien“ und „Einflusssphären“ lernen. Solche Konzepte, die viele Kriege verursacht haben, lassen sich nicht mit wohlklingender liberaler Rhetorik wegwünschen.

Um auf Asien zurückzukommen: Es scheint möglich, dass Peking die Gelegenheit einer russischen Invasion in der Ukraine zu gut findet, um sie sich entgehen zu lassen, und sich dafür entscheiden könnte, das Taiwan-„Problem“ zur gleichen Zeit zu lösen, während Washington abgelenkt ist. Bitte schnallen Sie sich an, denn es könnte zu erheblichen Turbulenzen kommen.

Der englische Originalartikel ist zuerst auf Defense One erschienen. Wir danken für die Möglichkeit, die deutsche Version zu veröffentlichen.

Lyle J. Goldstein ist Direktor von Asia Engagement bei Defense Priorities. Zuvor war er 20 Jahre lang als Forschungsprofessor am U.S. Naval War College tätig. Zu seinen Hauptfachgebieten gehören Fragen der maritimen Sicherheit und der nuklearen Sicherheit. Zu seinen Schwerpunkten zählen in letzter Zeit auch die Arktis und die koreanische Halbinsel. Er hat sieben Bücher über chinesische Strategie veröffentlicht, darunter „Meeting China Halfway“ (Georgetown UP, 2015). Er spricht sowohl Chinesisch als auch Russisch und schreibt derzeit an einem Buch über die Beziehungen zwischen China und Russland.

 

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Ein Kommentar

  1. Wer einen Kriegsindikator sucht, beobachtet fleissig, ob die Kinder Europäischer Politiker der oberen Garden und anderer Eliten „sämtlich“ zu “ Studienaufenthalten und Sprachkursen “ nach AMI – Land reisen.

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