Wladimir Sergijenko: „Wem soll ich glauben?“

Zerstörtes Gebäude in Mariupol. Bild: RIA Nowosti / Alexey Kudenko

Über Wahrheit und Fake im Infokrieg, der in einen dritten Weltkrieg münden könnte.

 

Seit einigen Tagen geht hier im Westen die Meldung um, dass seit zwei Wochen der russische  Verteidigungsminister Schoigu verschwunden ist und auch der Stabschef Gerassimow ist nicht mehr aufgetaucht ist. Und jetzt macht man sich Gedanken darüber, was da eigentlich los ist. Ist er krank? Hat er sich abgesetzt? Gibt es da Streit innerhalb der Führung? Was weißt du?

 

Wladimir Sergijenko: Shoigu und Gerassimow sind mit mir persönlich in Verbindung und sagen mir alle fünf Minuten, was sie machen (lacht). Shoigu ist hundertprozentig  im Sicherheitsrat heute aufgetreten. Sie sind nicht so blöd wie der britische Verteidigungsminister, der unterwegs in Polen mit russischen Prankstern telefoniert, die vorgaben, der ukrainische Ministerpräsident zu sein. Was Wallace beispielsweise über Atomwaffen für die Ukraine gesagt hat, interessiert mich nicht, aber dass er so leicht geortet und angerufen werden kann, vermittelt das Gefühl, dass alles nicht so ernst ist und kein dritter Weltkrieg kommt.

Dass der Verteidigungsminister Russlands oder Stabschef Gerassimow derzeit nicht auftreten, klingt ganz logisch. Beispielsweise hat Facebook die Algorithmen geändert, so dass man Russen und russische Soldaten richtig angreifen kann. Zudem wurde nun auch ein Kopfgeld auf Putin und Shoigu ausgesetzt.

Wer hat Kopfgeld ausgesetzt?

Wladimir Sergijenko: Wer steht hinter Kopfgeld am Putin? Verbreiten das nur die Ukrainer oder hat tatsächlich jemand, beispielsweise Chodorkowski, Geld auf Putins Kopf gesetzt? Die Wahrheit ist immer das erste Opfer vom Krieg. Es ist der russische, in den USA lebende Unternehmer Alex Konanykhin, der CEO von TransparentBusiness, der eine Million US-Dollar für die Verhaftung von Putin ausgesetzt hat.

Im Westen wird der Eindruck erweckt, dass die Militäroperation nicht gut geht, dass es Tausende von russischen Opfern gibt und dass man das vor der Öffentlichkeit verschweigt. Wie ist denn da die Stimmung in Russland eigentlich? Glaubt man den Informationen, die von der Ukraine kommen, dass schon über 14.000 Soldaten getötet worden sind?

Wladimir Sergijenko: Es ist so, dass man in Russland auf die offizielle Quellen verweisen muss, weil es zur Zeit viele Fake News gebe. Das wird  nach dem Strafgesetzbuch geahndet. Wenn ich korrekt sprechen will, muss ich mich auf das  russische Verteidigungsministerium als einzige Quelle beziehen. Was die ukrainische Seite betrifft,  herrscht Chaos. Wenn man rechnet, wie viele russische Flugzeuge zerstört und wie viele Soldaten getötet worden sein sollen, dann spricht man von einem fünfjährigen Krieg. Ich weiß nicht, woher man diese Zahlen hat. Aber wir kennen die Wahrheit nicht.

Es gibt auch neue Zeichen. Das russische Militär zeigt manchmal, was sie tun und führt Hubschrauber oder Kinschal-Raketen vor. Es wird gesagt, was tatsächlich passiert oder wie viele technische Objekte vernichtet wurden. In letzter Zeit wird auch von beiden Seiten mehr angegeben. Das ist dann so: Hey, du Russe, komm her, wenn du sterben willst, worauf die tschetschenischen Sondereinheiten entgegnen: Naja, wir sind gekommen, aber wo bist du? Wenn man so spricht und im Hintergrund sieht man eine total zerstörte Stadt, dann ist das Wahnsinn.

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Es wird behauptet, dass die russische Streitkräfte gezielt Zivilisten töten oder zivile Ziele angreifen.

Wladimir Sergijenko: Woher hast du das?.

Das liest man hier in den Medien. Es wird von den Amerikanern beispielsweise offiziell gesagt, die jetzt versuchen, Russland wegen Kriegsverbrechen anzuklagen. Natürlich kommen die Informationen von der Ukraine und sind Teil der strategischen Kommunikation. Aber der Eindruck, der hier erwckt wird, ist, dass gnadenlos Zivilisten niedergemacht werden.

Wladimir Sergijenko: Das ist ein Gespräch über Wahrheit und Lüge, Medien, aber auch über Geheimdienste. Ich kann nicht glauben, dass die deutsche Militäraufklärung oder der Bundesnachrichtendienst oder andere Geheimdienste nicht informiert sind, was tatsächlich geschieht. Wenn man die Verbreitung nicht gesicherter Information duldet, dann stehen dahinter Absichten. Das ist wirklich zum Kotzen, weil unterschiedliche Informationen kursieren und man im Infokrieg ist. Das ist eine Erklärung. Manchmal kann man aber auch eine Vorbereitung sehen, beispielsweise für den nächsten Schritt der Nato durch Entsendung von Truppen in die Ukraine, wie das Polen vorgeschlagen hat. Das hat die Nato dann nicht genehmigt. Wieso sage ich das? Es  ist eine ganz wichtige Frage. Die Russen sehen jeden Tag im Fernsehen Liveschaltungen und informieren sich über Telegram. Dann ist Bild ganz anders. Die Menschen müssen selber entscheiden, wem sie glauben.

Es gibt unterschiedliche Aussagen über Mariupol. Man sieht Menschen, die aus Mariupol fliehen konnten, die jetzt sichtlich erschöpft sind und sagen, Gott sei Dank haben wir hier eine Mobilverbindung.  Tante Elena, wenn du uns siehst, wir sind alle noch am Leben. Eine Journalistin, die ich schon lange wegen der Richtigkeit ihrer Berichte respektiere und die immer für die Menschen da ist, war dort. Es sind Kollegen, die man manchmal persönlich kennt. Dann glaubst du den Informationen. Sie sagen, es ist schlimm, wenn man den Menschen Fragen stellt, wenn man erlebt, wie sie aussteigen, nachdem sie mehr als 10 Tage im Keller gelebt haben. Sie verstehen nicht, wer oben bombardiert und schießt. Es geht um humanitäre Fragen: kein Wasser, du kannst nicht auf das Klo gehen, jemand ist krank, jemand ist schwanger – und jetzt sind sie dem entkommen. Und dann kommst du als Journalist und stellst Fragen. Aber dann kannst du selber ein eigenes Bild herstellen.

Mir gefällt nicht, wenn die westliche Propaganda versucht, ständig Russen einen Vorwurf zu machen, was dann im russischen Infokrieg sofort zurückgewiesen wird.  Die Wahrheit ist zur Zeit nicht in der Mitte, die Russen glauben eher russischen Informationen, weil es genug Bilder gibt. Nehmen wir beispielsweise die Behauptung aus dem Westen, dass die Russen eine Schule bombardiert hätten. Die Russen sagen: Entschuldigung, es gib zur Zeit keine Schulen, in denen unterrichtet wird. Das ist bitter, aber es ist die Wahrheit. Das Schulgebäude oder der Kindergarten ist leer, es gibt hier keine Kinder zu Zeit. Und die gegnerische Seite nutzt die Gebäude zur Kasernierung.  Manchmal wird von dort geschossen. Dann ist es keine Schule, die gnadenlos bombardiert wird, sondern eine gegnerische Stellung von Bewaffneten oder ein Munitionslager. Wieso behauptet die westliche Propaganda dann, das sei eine Schule gewesen? Das geht nicht, sagt die russische Seite.

Die Russen sagen, dass beispielsweise Asow-Einheiten in Mariupol Zivilpersonen als Schutzschild benützen. Wem soll ich glauben? Die Russen zeigen auch Bilder. Mariupol ist eine enorme Prüfung für alle Nerven. Es sind mehrere Evakuierungsversuche gescheitert. Manchmal klappt es, manchmal nicht. Nach den Aussagen der Menschen, die ich bis jetzt gesehen habe, hätte man sie nicht rausgelassen und dann sei schon der Krieg richtig ausgebrochen.  Das russische Militär behauptet, dass die gegnerische Seite oft Wohnviertel und zivile Gebäude als Waffenverstecke oder für Artillerie nutzt. Mit der würde gefeuert und sie dann blitzschnell wieder weggeschafft, bevor die russische Artillerie auf den Ort zurückschießt, von dem der Beschuss ausgegangen ist. Dabei könne man auf die Schnelle oft nicht Wohnviertel von anderen Orten unterscheiden. Und es gibt natürlich Fehler, aber in Mariupol habe ich die letzten Tage gehört, dass die Zivilisten nicht die Stadt verlassen durften.

Es gab gestern eine Meldung, dass ein paar tausend Menschen aus Mariupol nach Russland gekommen sind. Die ukrainische Seite sagte, die Menschen seien entführt, von den Russen nach Russland verschleppt worden. Was sagst du dazu?

Wladimir Sergijenko: Wenn man nicht überzeugend beweist, dass jemand befohlen hat, die Kinder und Frauen zu bringen, dann wissen wir, auf welcher Seite sie sind. Beispielsweise hat mein früherer Klassenkamerad in Berlin nicht geglaubt, dass im ukrainische Fernsehen ein Sprecher neben einem Bild von Eichmann dazu aufgerufen hat, auch die russischen Kinder zu töten. Weil sie später zu russischen Erwachsenen würden, müsse man alle vernichten. Ich habe das auch veröffentlicht, aber mein Klassenkamerad stritt das ab und meinte, das sei in einem Studio in Moskau gemacht worden. Der ukrainische Fernsehsprecher hat sich am nächsten Tag entschuldigt. Aber mein Klassenkamerad  sagt, es sei in einem Moskauer Studio gemacht worden. Genauso ist es für viele, wir wissen nicht, was tatsächlich geschieht.

Menschlich gesehen kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen tatsächlich verschleppt wurden. Ich kann mir aber vorstellen, dass die Asow-Leute, die immer weiter Haus für Haus zurückgedrängt werden, lieber Zivilisten dabehalten, weil sonst das russische Militär alles mit Raketenangriffen vernichten könnte. Es müsste schon Beweise geben, dass die Menschen verschleppt wurden. Dann kann man darüber diskutieren.

Werden denn die Menschen, die aus Mariupol nach Russland kommen, im russischen Fernsehen nicht danach befragt? Und ist es zu glauben, was sie sagen?

Wladimir Sergijenko: Ich kann mir vorstellen, dass Asow-Leute, deren Einheit vernichtet wurde, versuchen, auch aus dem Kessel rauszukommen. Sie ziehen sich Zivilkleidung an, aber sie werden nicht einfach durchgelassen, sondern etwa auf Tätowierungen mit Hakenkreuzen und so überprüft. Es kann schon sein, dass man dann Leute verschleppt. Dann kommen nach 24 Stunden Bilder, die zeigen, dass jemand festgenommen wurde.

Wenn du aber die Bilder von den Menschen siehst, die fliehen konnten, dann glaubst du, dass die Tragödie groß ist. Man sieht es einfach. Die zeigen ganz normale Reaktionen: Gott sei Dank, ich bin aus der Höhle herausgekommen. Sie erzählen meist, wie sie sich in den Kellern versteckt und überlebt haben. Ich habe in meinem Bekanntenkreis Leute, die bis jetzt keinen Kontakt mit ihrer Verwandtschaft oder ihren Kindern hatten.

Natürlich frägt man die Geflüchteten im Fernsehen oder auf Telegram ständig, wie sie das überlebt haben und warum sie nicht fliehen konnten, ob es keine Möglichkeit gegeben hat herauszukommen. Warten wir noch ein paar Tage, bis die Menschen sich beruhigen und erklären können, wie es kurz vor der Evakuation war. Ich habe vor kurzem mit Inforadio Berlin gesprochen. Da ist man selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Ukrainer  nicht in Richtung des Aggressorland, sondern in Richtung Ukraine gehen wollen. Die Ukraine hat abgelehnt, dass die Menschen nach Russland kommen. Ich meine, es ist scheißegal, in welche Richtung, Hauptsache weg von der Hölle. Wenn die Menschen Richtung Ukraine gehen können, dann können sich auch die Kämpfer unter diesen verstecken, wenn sie nach Russland kommen, dann haben sie keine Chance, in den Donbass zu gelangen. Da ist nicht nur die russische Armee. Jetzt spricht man davon, um nicht nur immer von Russen zu sprechen, dass dort auch die Armee von Lugansk und Donezk ist, weil Russland diese Städte anerkannt hat.

Das Herumgetue über diese Fluchtwege ist eine Blamage für alle. Besonders „lobe“ ich hier die westliche Politik. Der einzige der Mut hat, ist der griechische Außenminister, der sagte, er werde eine humanitäre Mission nach Mariupol begleiten, wo es einen griechischen Bevölkerungsanteil gibt. Dem Mann muss man Respekt zollen. Es ist nicht die ständige Wiederholung von ukrainischen Nachrichten oder russischen Nachrichten.

Meine persönliche Meinung: Die Menschen in Mariupol waren Geisel in dieser Situation. Wenn eine Rakete zu einem Ziel fliegt, wo es zivile Opfer gibt, wenn beispielsweise das Militär Gebäude verwechselt, dann sollen sie nach dem Krieg angeklagt werden und die Opfer eine Entschädigung erhalten. Zur Zeit ist das Problem, dass die Zivilbevölkerung noch nicht aus der Stadt ist. Dafür sind aber mehrere Seiten verantwortlich. Die Russen, die die Sonderoperation gestartet haben, tragen die Verantwortung für bestimmte Geschehnisse. Das ist klar, und das verstehen auch die Russen, und es wird auch ständig wiederholt, dass die Zivilisten möglichst verschont werden sollen. Schuld ist aber auch das Militär der anderen Seite, das die Menschen nicht aus der Stadt fliehen ließ, vielleicht in der Hoffnung, dass das russische Militär dann nicht so stark bombardiert und man so das eigene Leben retten kann oder eher eine Chance hat, es zu retten. Die Kommunikation untereinander hat nicht funktioniert. Die Einwirkung von außen hat auch nicht funktioniert. Meine große Angst ist, dass sich das woanders wiederholen könnte, weil man keine Lösung findet oder blitzschnell keine Flucht organisieren kann. Es ist eine PR-Politik: Wir sind besser als die Gegner. Und die Opfer sind schon wieder die Zivilisten. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis wir mehr Zeugenaussagen von beiden Seiten haben. Ich sehe eine kleine Hoffnung auf der russischen Seite, dass die Menschen die Wahrheit erzählen und damit ihre Verwandtschaft und Freunde, die auf der westlichen Seite der Grenze sind, beeinflussen können.

 

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4 Kommentare

  1. Zum „Aufruf im ukrainische Fernsehen … auch die russischen Kinder zu töten“

    Die Möglichkeit, hier einem Deep-Fake aufzusitzen, beschäftigte mich auch.
    Die Montage des Eichmann-Bilds [1] scheint nachträglich erfolgt zu sein [2].
    Dass die gesamte Sequenz allerdings ein Deep-Fake ist, halte ich für unwahrscheinlich. Der Youtube-Kanal des Senders enthält auch weiterhin eine Video-Sequenz, welche die anderthalb Minuten dieser Sendung vor Beginn des Monologs zeigt. Am Ende dieser ist eindeutig der Anfang des Videos mit dem Eichmann-Vergleich zu sehen. [3]
    Ein Beweis ist dies nicht. Im Zusammenhang mit der im Text oben erwähnten „Entschuldigung“ halte ich diesen live ausgestrahlten Monolog jedoch für authentisch.

    [1] https://ms-my.facebook.com/RussianMissionOSCE/videos/recent-outrageous-calls-of-ukraine-tv-presenter-fakhrudin-sharafmal-for-killing-/385358816386125/
    [2] https://www.youtube.com/watch?v=vjLh9MZ_arQ
    [3] https://www.youtube.com/watch?v=RUlf8VKL3Cg

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