Raus aus der Konfliktlogik!

Bild: Uriel Soberanes/unsplash.com

Ideen zum Frieden in der Ukraine aus kommunikationstheoretischer Sicht.

Am 24. Februar hat Russland die Ukraine in einem völkerrechtswidrigen Krieg angegriffen. Neben Zerstörung und gewaltigem Leid hatte diese Invasion noch eine weitere Wirkung: Alles wurde noch einfacher für diejenigen, für die es sowieso schon einfach war. Und noch komplizierter für diejenigen, für die es sowieso schon kompliziert war.

Erstere sehen sich in ihrer Lesart bestätigt, dass Wladimir Putin ein übler Despot, ein Diktator, ein „Monster“, ein „Irrer“, gar ein Wiedergänger Hitlers sei. Ihre Schlussfolgerungen für das eigene Handeln sind so klar wie ihr moralisches Urteil: Gegen das Böse hilft nur Härte, Isolation, Unterwerfung, letztlich Vernichtung – mindestens Putins („Gibt es einen Brutus in Russland?“), nötigenfalls ganz Russlands („Das wird Russland ruinieren.“).

Daher dauerte es nur wenige Tage, bis der Angriff auf die Ukraine mit harten Sanktionen beantwortet wurde. Obwohl diese Sanktionen ihrerseits völkerrechtswidrig, voraussichtlich wirkungslos und jedenfalls selbstzerstörerisch sind, scheinen sie „alternativlos“. Was hätten die Nato-Staaten sonst tun sollen? Dem Rechtsbruch tatenlos zusehen?

Wie Spaltungen entstehen

Ein Sprung auf die Metaebene mag hilfreich sein. Als Erster hat im Abendland der Universalwissenschaftler Gregory Bateson analysiert, wie Kommunikationssysteme funktionieren, und wie darin Konflikte ablaufen, und sein Schüler Paul Watzlawick hat das später ausgebaut und für die Psychotherapie nutzbar gemacht. Von Watzlawick stammen die „Axiome der Kommunikation“. Ihr erstes lautet: „Man kann nicht nicht kommunizieren“, und das dritte: „Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt.“

Das bedeutet: Wenn zwei Partner – und das mögen Tiere, Menschen oder Staaten sein – miteinander kommunizieren, dann wird erstens alles, was einer der Partner tut – auch Schweigen – als Mitteilung wahrgenommen. Folglich wird der andere Partner darauf reagieren. Aber, und das ist mit „Interpunktion“ gemeint: Diese vermeintliche „Reaktion“ von Partner 2 ist für Partner 1 wiederum eine Mitteilung, auf die er meint, nur zu reagieren. Die lange Kette von Hin und Her und Hin und Her . . . teilt jeder der beiden auf seine Weise ein. Jeder rechtfertigt sein eigenes Handeln damit, dass er ja „nur reagiert“ habe. Jeder setzt den „Punkt“ immer vor dem Handeln des Anderen.

Besonders deutlich wird das in einem Konflikt, zumal gerade im Streit das Bedürfnis nach Rechtfertigung wächst. Nehmen wir Watzlawicks klassisches Beispiel: Eine Ehefrau wirft ihrem Mann vor, nie zu Hause zu sein. Er keilt zurück, das liege an ihrem ständigen Genörgel, das ihn davontreibt. Sie erwidert, sie nörgele, weil er nicht da sei. Er sagt, er sei nicht da, weil sie nörgelt. Et cetera at infinitum.

Solche sich selbst verstärkenden Rückkopplungen im Streit hat Bateson „Schismogenese“ genannt. Er unterschied komplementäre und symmetrische Schismogenesen. Das Musterbeispiel einer komplementären Schismogenese ist das obige: Ein Kommunikationspartner – hier die Gattin – attackiert, der andere – hier der Gatte – zieht sich zurück, und gerade dieses Verhalten ruft erneute Aggression beim ersten Partner hervor.

In einer symmetrischen Schismogenese hingegen handeln beide Seiten gleichartig: Kollege A lästert über Kollegen B, Kollege B stichelt gegen Kollegen A, A schwärzt B bei der Chefin an, B verpetzt A, usw. Wenn niemand mäßigend eingreift oder die beiden Streithähne rauswirft, dann eskaliert die symmetrische Schismogenese bis zum Knall, bis zu körperlicher Gewalt.

Und nachher ist keiner Schuld. Denn jeder hat ja nur „reagiert“. „Alternativlos.“ Was hätte er auch sonst tun sollen?

Eine Schismogenese ist eine missliche Sache. Je höher der Konflikt bereits gekocht ist, desto heißer sind auch die Emotionen. Keiner der Partner wird bereitwillig sein Verhalten ändern, denn – warum bitteschön er? Der Andere hat doch . . . ! Und doch ist aus einer Außensicht klar, dass jeder der beiden Partner die Macht hat, den Konflikt zu beenden, weil das Verhalten auf jeder der beiden Seiten nicht nur Wirkung, sondern auch Ursache ist. Jeder der beiden kann, hinreichende Selbstreflexion oder äußere Beratung vorausgesetzt, aus der Logik des Konflikts ausbrechen und ein neues Kommunikationsmuster der Verständigung etablieren.

Eskalation in der Ukraine

Zurück auf die reale Ebene des ukrainischen Schlachtfelds. Unschwer erkennt man in der Verallgemeinerung von Bateson und Watzlawick die Konfliktparteien Nato und Russische Föderation. In meiner Lesart (aber auch ich bin, wie jeder, der auf der Nordhalbkugel darüber schreibt, nicht Richter, sondern Partei) lassen sich in dem Konflikt grob zwei Phasen unterscheiden: Seit den Neunziger Jahren handelte es sich zunächst um eine komplementäre Schismogenese. Während sich die Nato seit 1999 durch die Osterweiterung auf Russland zubewegte, bemühte sich die russische Regierung um gute Beziehungen mit dem Westen und betrieb etwas, das man wohl „Appeasement“ nennen könnte. Das Zurückweichen des auch wirtschaftlich schwachen Russland wurde aber von der Nato als Schwäche und Einladung zu weiterer Ausdehnung interpretiert.

Seit ungefähr den 2010er Jahren hat Russland auf eine symmetrische Schismogenese umgeschaltet. Zunächst in Syrien, dann in der Ukraine vereitelte russisches Militär die Versuche des Westens, russischen Einfluss gewaltsam zu schwächen. Von der Nato werden diese Interventionen – selbstverständlich – als „Aggression“ wahrgenommen und interpunktiert. Denn wie in jedem Konflikt, so laufen auch hier die Interpunktionen der beiden Seiten phasenversetzt. Die Nato interpunktiert so: Russland hat die Krim annektiert – darum mussten wir der Ukraine helfen. Russland hat die Ukraine angegriffen – darum müssen wir Sanktionen verhängen. Dagegen interpunktiert Russland: Der Westen hat den nationalistischen Putsch in Kiew veranstaltet – darum mussten wir uns die Krim sichern. Der Westen hat die Ukraine aufgerüstet – darum müssen wir diese Bedrohung entwaffnen.

So schaukeln sich Aufrüstung auf beiden Seiten, grenznahe Manöver, tatsächliche oder unterstellte Versuche der innenpolitischen Destabilisierung und Sanktionen wechselseitig hoch. Der Krieg in der Ukraine ist nur die vorerst letzte und gewalttätigste Eskalationsstufe in einem jahrzehntelangen Prozess. Jede der beiden Seiten sieht sich jetzt durch das Handeln der anderen Seite zu weiterer Eskalation berechtigt. Doch zwischen zwei Atommächten ist die höchste Eskalationsstufe die Vernichtung der Menschheit. Es geht nicht darum – es darf nicht darum gehen! -, wer Recht hat. Es geht nicht um Schuld. Sondern um Verantwortung: die Verantwortung dafür, die tödliche Eskalation zu beenden. Das aber geht nur, wenn mindestens eine der beiden Seiten aus der Logik des Konflikts heraustritt.

Die Möglichkeit der Wieder-Annäherung

Also: Was könnten wir denn sonst tun?

Zunächst: Ja, diese Frage muss sich jede Seite selbst stellen. Schuldzuweisungen an die Gegenseite und die Forderung, der Andere müsse zuerst nachgeben, sind offensichtlich Teil der Konfliktlogik. Das einzige erreichbare Werkzeug zur Deeskalation ist immer das eigene Handeln. Russen mögen sich Gedanken darüber machen, was die russische Regierung tun kann, um den Streit zu entschärfen. Unser Adressat ist die deutsche Regierung.

Der erste Schritt sollte sein, dem kühlen Verstand wieder Herrschaft über die heiße Entrüstung zu verschaffen. Es braucht reflektiertes Handeln anstelle von reflexivem Zurückschlagen.

Dabei mag helfen, sich der Aussage von Egon Bahr zu erinnern, die in diesen Tagen viel (aber noch nicht genug) zitiert wird: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Denn über Interessen kann man verhandeln, über Werte nicht.

Das bedeutet auch: Die andere Seite ist nicht „böse“. Die Personalisierung und Dämonisierung der russischen Führung, die aktuell in fast allen westlichen Medien betrieben wird – Putin als „Irrer“, „Monster“, „Hitler“ etc. – , ist nicht hilfreich, sondern im Gegenteil gefährlich und schädlich. Sie verbietet von vorneherein jede Verständigung, denn wie wollte man mit dem Teufel Kompromisse schließen? Und, schlimmer noch: Sie rechtfertigt für das eigene Handeln jede Grausamkeit, denn das Böse verdient keine Schonung.

Stattdessen setzt eine Konfliktlösung voraus, a) dass man die Beziehung überhaupt retten will, und das auch glaubwürdig erklärt, und b) dass man dadurch den Gegner als Partner akzeptiert, dem eigene Interessen zugestanden werden. Sie setzt weiter die Bereitschaft voraus, vorwurfsfrei über wechselseitige Erwartungen zu sprechen und die Vergangenheit ruhen zu lassen.

In der systemischen Psychotherapie, die von Watzlawick entwickelt wurde, geht man davon aus, dass Gaben jeglicher Art – positiver ebenso wie negativer – zwischen den Partnern ausgewogen sein müssen, damit die Beziehung ausgewogen ist und bestehen bleibt. Das gilt in einer Liebesbeziehung für gegenseitige Gunstbeweise. Es gilt aber auch in einem Konflikt: Wer eine Verletzung nur schluckt, bleibt damit dem Anderen etwas schuldig, und lädt zugleich zur komplementären Schismogenese ein. Damit die Beziehung weitergeht, muss eine Gegengabe her. Aber damit ein Neuanfang, eine Umkehr des Eskalation und letztlich Versöhnung möglich sind, kann und muss diese Vergeltung immer ein wenig geringer ausfallen als die vorangegangene Verletzung.

Was also sollte man sonst tun? Nicht die andere Wange hinhalten, so edel und christlich das auch wäre. Aber auch nicht mit der Faust zurückschlagen. Sondern Gesprächsangebote machen und pflegen, während man zugleich den eigenen Standpunkt behauptet. Der Westen sollte Signale senden, dass er eine Verständigung wünscht, und unter allen Umständen die Kommunikation mit allen russischen Stellen intensivieren – nicht abbrechen. Vom touristischen Besuch über Schüleraustausche, Städtepartnerschaften und wissenschaftliche Kooperationen bis hinauf zu diplomatischen Konsultationen sind gerade alle Gesprächskanäle lebenswichtig. Dass so viele davon vom Westen abgebrochen werden, ist beängstigend.

Anregung könnten westliche Politiker wiederum bei Egon Bahr finden, der 1963 in seiner programmatischen „Tutzinger Rede“ die Strategie des „Wandels durch Annäherung“ entwarf. Er sprach von „der Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll. Das klingt paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zu einer Erstarrung des Status quo geführt hat. Das Vertrauen darauf, dass unsere Welt die bessere ist, die im friedlichen Sinn stärkere, die sich durchsetzen wird, macht den Versuch denkbar, sich selbst und die andere Seite zu öffnen und die bisherigen Befreiungsvorstellungen zurückzustellen.“ Er erkannte, „dass man auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen müsse, so ist es sicher für die Sowjet-Union unmöglich, sich die Zone zum Zwecke einer Verstärkung des westlichen Potentials entreißen zu lassen.“ – Was damals für die Zone galt, gilt heute nicht weniger für die Ukraine. Und: „Es ist eine Illusion, zu glauben, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten zu einem Zusammenbruch des Regimes führen könnten.“

Es ist dringend, sich der Möglichkeit des „Wandels durch Annäherung“ wieder zu erinnern, nachdem zwanzig Jahre des versuchten „Wandels durch Konfrontation“ uns nur vor den Abgrund der Katastrophe geführt haben. Und nein: Solch eine Annäherung wäre keine „Schwäche vor dem Aggressor“. Wer die Größe zeigt, auf seinen Gegner zuzugehen und damit Frieden ermöglicht, ist nicht schwach – im Gegenteil. Es ist, wie auch Bahr sagte, ein Zeichen von moralischer und charakterlicher Stärke, die Logik des Konflikts und des gedankenlosen Reagierens hinter sich zu lassen und stattdessen Verständigung zu suchen.

Ähnliche Beiträge:

3 Kommentare

  1. Auf die Ereignisinterpunktion habe ich schon in unzähligen Kommentaren hingewiesen. Ein Konflikt, an dem sich das vorzüglich exemplifizieren lässt ist der israelisch-palästinensische. Ebenso habe ich schon oft ausgeführt, dass man einen Modus vivendi finden muss, will man Konflikte vermeiden bzw. herunterfahren.

    Aber: „Stattdessen setzt eine Konfliktlösung voraus, a) dass man die Beziehung überhaupt retten will, und das auch glaubwürdig erklärt, und b) dass man dadurch den Gegner als Partner akzeptiert, dem eigene Interessen zugestanden werden.“

    Genau das ist oft nicht gegeben. Die usa und auch viele Europäer wollen die Beziehung zu Russland gar nicht retten, vielmehr Russland als solches zerstören, in seine Einzelteile zerlegen. Interessen werden wohl zugestanden, aber als illegitim denunziert. Umgekehrt ist das nicht der Fall. Es gibt eben diesebezüglich auch asymmetrische Konflikte, in denen der gute Wille, sie gewaltfrei zu lösen einseitig verteilt ist. In solchen Fällen bieten auch Watzlawick und Bahr keine Lösung, der zweiten Seite bleibt bloss, sich zu wehren oder sich aufzugeben. Tertium non datur.

    Die usa ist Hegemon, die Beziehung zu anderen Staaten ist asymmetrisch und das soll von ihr aus auch so bleiben. Damit gibt es keine Möglichkeit zu einer konvivialen Lösung. Der Konflikt wird wie eine Schachpartie ‚gelöst‘, durch die Vernichtung des Gegners. Allerdings ist das Brett der gesamte Planet und es gibt niemanden, der die Einhaltung von Regeln durchsetzen könnte.

    Solche Fälle treten in der Politik immer wieder auf und es ist auch keine Neuheit, dass die nach Aufklärungskriterien moralisch bessere Seite die kompromissunwillige, das Problem unlösbare Seite darstellt, das war schon im Konflikt zwischen Athen und Sparta so, der bekanntlich mit einer Niederlage Athens im Zweiten Peleponesischen Krieg geendet hat.

  2. Diese psychologischen Erklärungsmuster sind ja gut und schön, setzen aber, wie in jeder spontanen Kommunikation voraus, dass keiner der Partner einen Plan besitzt und diesen umsetzen will. Was also, wenn die Kommunikation planvoll und zielgerichtet und keineswegs spontan ist?

    Overextending and Unbalancing Russia
    https://www.rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html

    oder Lindsey Grahams Worte in einer Rede an ukrainische Soldaten: “ Your fight is our fight, 2017 will be the year of offense. All of us will go back to Washington and we will push the case against Russia. Enough of a Russian aggression. It is time for them to pay a heavier price. ”
    https://newspunch.com/mccain-graham-ukraine-russia/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert